Leseproben aus dem Fachbuch von Waibel

Ich Stimme. Das Stimmhaus-Konzept für die Balance von Stimme und Persönlichkeit

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Dialekt ist Muttersprache

Dialekt und Gefühl eines Menschen liegen nahe zusammen. Wer Dialekt spricht, identifiziert sich mit uralten Gefühlen und emotionalen Erlebnissen aus der Sozialisation. Ob diese Gefühle positiv oder negativ besetzt sind, lässt sich nicht allgemein beantworten. Die Erlaubnis, Dialekt zu sprechen, anstatt ihn zu verpönen, kann aber eine Gefühlsblockade auflösen, vornehmlich dann, wenn der Dialekt mit positiven Erlebnissen in Verbindung gebracht wird. Dieselbe seelische Qualität wird erreicht, wenn z.B. ein in Deutschland lebender „Ausländer“ seine Muttersprache sprechen darf, wenn er die Sprache seiner Heimat im Alltag erleben und einsetzen kann. Der individuelle Zungenschlag ermöglicht Spielräume der Entfaltung. Der Dialekt eines Menschen ist auf engste Weise mit seiner Persönlichkeit verbunden und darf nicht diffamiert werden, auch nicht von ihm selbst. Der Dialekt kann Wege ins Unbewusste des eigenen Selbst eröffnen und darüber die Entfaltung der Stimm-Persönlichkeit fördern. Es kommt vor, dass Dialekte als „Sing-Sang“ abgewertet werden. Daran wird deutlich, dass hier die Melodie farbiger und dominanter zum Tragen kommt als in der Hochsprache. Neben dem Gesang, in Form der Intervalle, gestaltet die Melodie vor allem im Dialekt den Sprechvorgang. Die Melodie ist hierbei Ausdruck von Variabilität, von Abwechslung und ermöglicht die Loslösung von Anpassungsdruck und von möglicher Steifheit. (…)(Auszug aus: Jochen Waibel, Ich Stimme, 2000, 207)

Mens´s Health bat mich um Stellungnahme und veröffentlichte folgende Kurzantwort:
„Wenn Sie mit dem Dialekt aufgewachsen sind, brauchen Sie sicher Unterstützung um Hochdeutsch zu lernen“, sagt Sprechtrainer Jochen Waibel aus Hamburg (www.stimmhaus.de). Ein Coach analysiert die Klangfarbe Ihrer Stimme sowie die Artikulation, das hilft Ihnen dabei, korrekt zu sprechen. Planen Sie etwa 10 Stunden ein.“

Mutation

Ein faszinierendes Phänomen ist für mich die so genannte Mutationsfistelstimme von männlichen Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen. Die Mutation, der Stimmwechsel als Grenze zwischen Jugend und Erwachsensein, die bei männlichen Jugendlichen um das 14. Lebensjahr erfolgt (10.-16. Lebens-jahr), dauert hierbei länger als die Regelzeit von 6 bis 24 Monaten. Die männliche Stimme weist eine erhöhte mittlere Sprechstimmlage auf, die bei Belastung noch weiter steigt. Der Stimmklang bricht weg und schießt, insbesondere bei emotionaler Erregung, nach oben. Typisch ist ein Kehlkopfhochstand und entsprechend ein hoch fixiertes, kaum bewegtes Zwerchfell. Beim Räuspern oder Husten klingt in aller Regel die männliche Stimme mit dem dominierenden Brustregister durch.
(…)
Junge Männer, die im Stimmbruch stecken geblieben sind, brauchen daher männliche, noch besser männlich-psychologische Rückenstärkung. Durch die zu geringe Berücksichtigung der Bedeutung des männlichen Sprechvorbilds ist es oft Zufall, dass ein junger Mann zu einem männlichen Therapeuten kommt und ihm angemessen geholfen werden kann. Die Tatsache, dass die nicht-psychologische Sprachtherapie zum größten Teil in Händen von Frauen liegt, trägt ihren Teil dazu bei, dass die Therapie von (männlichen) Mutationsfistelstimmen trotz viel Mühe am Kern vorbei geht: Die männliche Seele in der sich nach-entwickelnden Männerstimme strebt nach männlicher Energie. Diese männliche Energie ist umso wirksamer, je mehr sie von einem Mann oder Therapeuten herrührt, der Raum und Orientierung zu geben bereit ist.(Auszug aus: Jochen Waibel, Ich Stimme, 2000, 178 f)